Iteration Ein Schritt. Hinauf auf die Spitze des Berges. Lass den Wind durch deine Kleidung fahren. Kühle Frostfinger ertasten sanft den winzigen Spalt zwischen deiner Haut und dem Stoff. Direkt vor Dir, in der Nicht-Distanz des dunklen Himmels, zeigen sich erste Spuren der aufgehenden Sonne. Es scheint, als eilen einzelne Photonen Ihren Brüdern voraus. Zieh den Mantel enger um Deine Schultern, stell den Kragen auf. Während Du am Verschluss herumfingerst, suchen goldene Finger der Dunkelheit zu entkommen. Mehr und mehr Boten des neuen Tages schiessen hervor, so daß Du nun ein Zentrum ausmachen kannst. Das Zentrum, die Sonne. Ihre Vorboten überbringen das Versprechen, zumindest für wenige Stunden die kalte Dunkelheit in freundliche Wärme zu verwandeln. Noch vermögen Sie nicht den morgendlichen Frost zu vertreiben, doch wo sie sich niederlassen kann man schon Ihre Botschaft erahnen. Ein Schaudern, nicht unangenehm. Das Tal unter Dir scheint nun auch zum Leben zu erwachen, zumindest vermagst Du nun einzelne Details auszumachen. Eine Hügelkette erstreckt sich in einer seltsamen Schlangenlinie, soweit Dein Auge reicht. Gegen Deinen Willen steigst Du wieder hinab. Noch lange möchtest Du verweilen, doch eine Uhr an Deinem Arm, der doch nicht Dir gehört; sie zeigt 04:55. Die Beine, die doch nicht Deine Beine sind; sie machen noch zwei Schritte rückwärts, dann zeigt die Uhr 04:59. Der Himmel wandelt seine Farbe, blitzschnell. Eben noch durchdrungen vom gleißenden Gold der aufgehenden Sonne, zeigt er nun das weisse Rauschen eines auf einen toten Kanal gestellten Fernsehers. Und der Boden unter Deinen Füßen. Und Deine Füße. Und Du. Schnell drückst Du die Rücklauftaste. Du siehst Deine Finger. Wirklich Deine Finger, diesmal. Schmutzig und aufgequollen. Übersät von vielen kleineren und größeren Verletzungen. Ungeduldig klopfst Du auf das billige Plastik des Wiedergabe-Gerätes. Dein Blick huscht über den schmutzigen Boden, kurz gefangen von einer einsamen Kakerlake, die den heutigen Tag nicht erleben durfte. Die billige Neonröhre gibt ein unangenehmes Surren von sich; Ihr Ton vermengt sich mit dem unregelmäßigen Rascheln des Luftaufbereiters zu einer traurigen Melodie. Das Gerät erreicht mit einem lauten Rattern den Anfang des Bandes. Noch 2 Stunden, bis Du wieder in die Fabrik musst. Noch viel Zeit, Zeit für viele Sonnenaufgänge. Nicht, daß Du jemals einen Berg erklommen hättest. Oder einen Sonnenaufgang gesehen. Ein Schritt bringt Dich hinauf, an die Spitze des Berges. Der Wind fährt in Deine Kleidung... tom-05-01-95 (c)opyright 1995, Thomas Eicher. http://www.teicher.net/cyberpunk.html