Kreislauf Diese Party kam mir von Anfang an komisch vor. Als ich hereinkam wurde ich flugs einigen Leuten an der Bar vorgestellt. Mir fiel auf daß - obwohl es Montag war - kaum Stammgäste dabei waren. Während ich mir ein Bier bestellte, fragte ich mich, wie dieser Abend wohl zu Ende gehen würde. Wie immer gab es Möglichkeiten: mich besaufen, ein Mädchen aufreißen, besoffen ein Mädchen aufreißen... Ich muß mir noch ein paar Gedanken darüber gemacht haben, da fiel mir auf, daß scheinbar einige Leute den Raum verlassen hatten, um Platz für Neue zu machen. Die Neuen sahen genau wie die Alten aus. Ich beschloß mir noch einen Drink von der Bar zu genehmigen. Daran nippend wanderte ich wenig planlos umher, die Treppe hinauf. Und ratet mal was ich da fand: Leute. Viele Leute. Viele verschiedene Leute, verschiedene Gesichter an verschiedenen Orten, von jeder Gestalt oder Rasse. Für einen kurzen Moment schienen alle dieser Gesichten zu verschmelzen, zu einem großen Mosaik aus Gesichtern. Lachend, weinend, nachdenklich, verträumt, vorüberziehend. Vorüberziehend. Eine heftige Bewegung, im Aufstehen, half mir dann diese böse Magie aus meinen Augen zu verbannen. Jemand verteilte rote Pillen. Ich nahm eine. Fragte nicht, wofür sie war - oder wogegen. Meistens helfen solche Dinger sowieso nur gegen Realität. Ich stolperte weiter, zu den Treppen, um nachzusehen wo denn all die Leute, die ich kannte, hin waren. Na gut, 'kannte' war vielleicht ein wenig überbewertet, schließlich war ich auch denen erst vor ein paar Minuten vorgestellt worden, doch die anderen Leute schienen kein großes Verlangen zu haben, sich mit mir zu unterhalten. Seltsamerweise hatte überhaupt kaum jemand heute Abend dieses Interesse gezeigt. Treppauf. Ich fand Türen, viele davon verschlossen. Als ich durch ein Schlüsselloch spionierte, sah ich ein Pärchen Dinge tun, die ich hier nicht wiederholen will, oder mich nur daran erinnern. Es waren wirklich seltsame Leute da, in jener Nacht. Weiterstolpernd fragte ich mich noch, ob mir auch eine dieser Dinge noch widerfahren würden. Ein vorüberziehender Joint war eine willkommende Abwechslung von den Vorgängen in der Realwelt. Ein paar Hustenanfälle später war ich wieder einsatzbereit, immer noch auf der Suche nach meinem Schicksal, was immer das auch bedeuten soll. Irgendwann kam ich zu einer Tür, die mich einzuladen schien. Ich habe keine Ahnung in welcher Weise sie sich von allen anderen Türen in dieser Etage unterschied, und doch war es, als hätte jemand 'Komm rein' daraufgeschrieben, in unsichtbarer Zauberfarbe. Vorsichtig näherte sich meine Hand dem Türgriff, drückte, vorsichtig. Ich fühlte eine seltsame Art Energie, die auf meiner Hand prickelte, mir Gänsehaut machte, versuchte die Tür schneller zu öffnen. Es war eine Mischung aus dem Highlander wie er nach dem Sieg seine Energiedusche kriegt, und der USS Enterprise wie sie in diese tolle 'Doomsday Machine' gesaugt wird. Aber ich hatte keine Lust, mich von irgendwas irgendwohinein saugen zu lassen, nun, zumindest nicht in eine so so seltsame Tür. So stand ich da und kam mir großartig vor, als alles um mich herum in die Tür gesaugt wurde. Ich bemerkte ein Pärchen an mir vorüberziehen, lachend, mir zuwinkend, plötzlich von der Tür in Ihre Bestandteile aufgelöst. Ich fühlte mich wie das Auge des Hurricanes. Vielleicht war ich in jenem Moment tatsächlich im Auge eines Hurricanes. Die Realität entfaltete sich wie ein Hammerschlag, und erst seitdem weiß ich wirklich, was Gibson mit der Metapher "sich wie ein billiger Origami-Trick entfalten" gemeint hat. Ich verfiel in Panik als die Augenbinde aus namenlosen Amphetaminen und Marijuana plötzlich von meinen Augen gezogen wurde, und mich mit der nackten Situation zurückließ. Die Aussicht von einer gewöhnlichen Zimmertür verspeist zu werden gefiel mir überhaupt nicht, nichtmal von einer 'Doomsday Tür'(R), darum schloß ich sie. Einfach so. Ich hätte eine Art Kampf erwartet, ein Kräftemessen mit dieser seltsamen Erscheinung, aber das Schließen der Tür schaltete alles wieder auf normal zurück. Ich beschloß, mein Schicksal nicht noch einmal herauszufordern. Noch etwas leicht mitgenommen ließ ich mir das Ganze durch den Kopf gehen. Als ich so zu keinen brauchbaren Ergebnissen kam stattete ich der Küche einen erneuten Besuch ab, um mir ein Bier zu holen. Die Leute in der Küche waren andere. Andere als die, die das letzte Mal hier waren, welche Andere waren als beim ersten Mal. Gedankenverloren ging ich weiter, wanderte umher, aber vermied das Stockwerk mit der Doomsday Tür. Auf einmal überkam es mich: Wenn es hier eine Tür gibt die Leute verspeist, warum ist es dann so verdammt voll hier ? Die Leute um mich herum sahen für mich alle gleich aus, so beschloß ich einige von ihnen zu markieren, indem ich sie mit Strawberry Margaritha bespritzte. Sie reagierten genauso wie man es von normalen Partygästen erwarten würde. Einer wollte sich sogar mit mir prügeln, doch ich kam gerade noch davon, weil ich betrunken spielte. Ein frisches Bier in der Hand setzte ich mich dann ins Erdgeschoß, gegenüber der Treppe. Es dauerte ein wenig unter 23 Minuten bis der Letzte auftauchte. Alle verschwanden nach oben, und keiner kam zurück. Ich markierte 10 weitere Leute, und wartete erneut. 22 Minuten später begann der letzte mit dem Aufstieg. Einem anderen Gedanken folgend setzte ich mich ins Wohnzimmer und zählte die anwesenden Leute. Fünfundreißig. Wartete zwei Minuten. Zählte nochmals. Zweiundreißig. Wartete zwei Minuten. Achtundreißig. Wartete zwei Minuten. Sechsundreißig. Vierundreißig. Siebenundreißig. Na, wenn es also einen Ort gibt, der Leute absorbiert, und die Zahl der Leute in einem bestimmten Raum ist beinahe konstant ... dann muß es ein Gegenstück zur Doomsday Tür geben. Bierlaunig beschloß ich es die 'Genesis Tür' zu nennen. Erneut begann ich Leute mir Strawberry Margaritha zu markieren. Dank dem raschen Austausch wußte keiner der Anwesenden, daß ich das erst vor einer halben Stunde gemacht hatte. Umherlaufen, die Tür suchen vor der keine markierten Leute standen. Schon nach wenigen Minuten wurde ich fündig. Ich ging auf die Toilette, wusch meine Hände, pißte. Ein Typ kam aus der Kabine. Ich wusch meine Hände, tat so als pißte ich nochmal. Ein andere Typ kam aus der Kabine. Wieder wusch ich meine Hände und beobachtete die Kabine. Wieder kam ein Typ heraus. "Entschuldigung", sprach ich ihn an, "wie sind sie denn IN die Kabine gekommen - äh - ich meine, woher kommen Sie?" Er starrte mich an als spräche ich von grünen Marsmenschen. "Hmm, durch die Tür vielleicht?" meinte er vorsichtig, nicht ganz sicher ob er mich richtig verstanden hatte. Ich lief zur Tür, versuchte sie aufzuziehen. Verschlossen, natürlich. Ich wartete an der Seite. Ein Typ kam heraus, zog sie hinter sich wieder zu. Wieder verschlossen. Dem nächsten Typen riß ich sie aus der Hand, "Sorry, dringend!", und ging hinein. Nichts ungewöhnliches war hier zu sehen. Ich verschloß die Tür, wartete. Plötzlich wurde ein Teil der Wand durchsichtig, und ein Typ kam heraus. Er begann damit, den Reißverschluß seiner Hose aufzumachen, aber erschrak dann als er mich bemerkte. "Was tun Sie hier?", fragte er mich mit unsicherer Stimme. "Vergessen Sie's", antwortete ich, als ich die Kabine verließ. Aber ich folgte ihm unauffällig auf seinem Weg von der Kathode zur Anode. Ganz genau 30 Minuten später war auch er verschwunden, dorthin wohin sie alle verschwinden. Ein paar Bier später wandte ich mich an einen von ihnen: "Entschuldigen Sie, aber was würden Sie sagen wenn Ihnen jemand erzählte, sie hätten nur 30 Minuten zu leben, insgesamt?" Er lächelte, und antwortete "Ich würde sagen, er sei verrückt. 30 Minuten scheint mir ein bißchen dürftig, um sich auf einer Party zu amüsieren, nicht?" Ich nickte. Ich saß an der Bar, und wechselte von Bier zu irischem Whiskey. An jenem Abend war ich ganz zufrieden damit, einfach nur da zu sein, da zu sitzen, ein paar Stunden in Folge. tom-23-03-96, at a party deutsch tom-15-05-96 tippfehler/kommas amw-05/06-96 http://www.teicher.net/cyberpunk.html